Pylon

Das Jahr vergeht,
der Fürst ist müd'.
Und wie er so am Fenster steht
und auf das Land, die Dörfer sieht,
betrachtet Felder, Wiesen, Auen,
sich daran kaum satt kann schauen,
wird das Herz ihm schwer und bang,
denn er steht vor dem letzten Gang.

Schlag Mitternacht, ward ihm verheißen,
wenn beginnt das neue Jahr,
wird sein Lebensfaden reißen,
der ist dünn schon wie ein Haar.
Des greisen Fürsten Leib nun bebt.
Es dunkelt schon, ein Glöcklein schlägt.
Schlägt unerbittlich sieben Mal,
und jeder Ton ist eine Qual.

"Ach", denkt er sich, "könnt' ich der Zeit
gebieten wie meiner Armee,
so wär' es lang noch nicht so weit,
dass ich den letzten Abend seh!"
Er ballt die Faust, ruft schnell herbei
den General der Reiterei.
"Man halte alle Uhren an,
wo man sie nur finden kann!

Am Rathaus und dem Landgericht!
An jedem Erker, Turm, Pylon!
Vergesse Er die Kirchen nicht!
Nun geh' und eile Er sich schon
und sende meine Truppen aus,
dass sie geh'n von Haus zu Haus,
und man sie überall hinschickt,
wo das kleinste Uhrwerk tickt!

Aus jedem Heim man alle raffe,
ob Standuhr, Wecker, einerlei!
Auf dass er keinen Nachschub schaffe,
erkläre ich für vogelfrei
den Uhrmacher, bringt mir sein Haupt!"
So er die Zeit zu zähmen glaubt.
Schon bald hebt großes Klagen an.
Die Kürassiere, Mann für Mann,

dringen in die Stuben ein,
schlagen, was ein Uhrblatt trägt,
roh und lärmend kurz und klein,
bis sich im Land kein Zeiger regt.
Dem Uhrmacher die Stunde schlägt,
sein Kopf wird bei Hof vorgelegt.
Der Fürst denkt: "Besser du als ich",
entlohnt den Häscher königlich.

Da stößt der Wind das Fenster auf
und bläst im Schloss die Kerzen aus.
Im ganzen Land zieht Sturm herauf,
mit Tosen, Ächzen und Gebraus.
Es wetterleuchtet, donnert, blitzt.
Der Fürst auf seinem Throne schwitzt:
Was hat das alles zu bedeuten?
Und er schreit zu seinen Leuten:

"Die Fenster zu! Die Balken vor!
Die schwere Kette vor die Pforte!"
Doch unaufhaltsam durch das Tor
bricht schon eine Kohorte
von düst'ren Reitern auf Chimären,
Gestalten aus der Hölle Heeren.
Die führt Gevatter Tod selbst an,
die Sense jeder sehen kann.

Und er schwingt noch etwas im Zorn,
das ihm kein Mensch jemals entwand.
Es rollt ein allerletztes Korn
im Stundenglas für Lebenssand.
"Nun komm", sagt er, "mach' dich bereit."
Der Fürst, er beugt sich vor der Zeit.
Die letzte Uhr, die einer hält,
sie ist nicht von dieser Welt.

 

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